Nichts geht mehr
„Ich werde die kommende Unterrichtsstunde skippen. Habe ein Gerichtstermin.“
Dies lies Antoinette vor einigen Tagen verlauten.
„Und? Was erwartest du?“
Enthusiastisch erklärt sie, dass eine Zeugin ihre Unschuld beweisen könne. Antoinette ist guter Dinge, sie redet von Freispruch.
Aufgewachsen in grosser Armut schaffte sie es eine Arbeitsstelle als Kindermädchen in Saudi Arabien zu finden. Auf zehn Seiten berichtet Antoinette von ihrem ersten Flug in die Ungewissheit. Präzise beschreibt sie ihre Empfindungen, erklärt wie sie durch einfaches Hinschauen lernte, wie man das Tischchen herunter klappt.
Es ist ein Geschichte voll angefüllter Naivität, aber auch gezeichnet von Zielstrebigkeit. Sie möchte, sie muss ihren jüngeren Geschwistern beistehen. Essen, Kleidung, Schulgelder, an allem fehlt es in der Hütte ihrer Mutter. Antoinette bekennt unbewusst den inneren Drang alles für ihre Familie zu tun.
Kühl ist es, heute Morgen.
Nach einer klaren Nacht, eigentlich nichts besonderes. Ich kann mich gut an kalte Winternächte unter klarem Sternenhimmel in der Schweiz erinnern.
Ich sitze mit Antoinette im Schulungsraum über der Bibliothek. Wieder versuchen wir ihren Text zu bereinigen, aber die junge Frau ist in einer Nichts-geht-mehr-Situation gefangen.
*Sie wurde zum Tode verurteilt.
In unendlicher Verlorenheit sitzt sie mir gegenüber. Ich rede, frage, erwähne Hoffnung. Sie reagiert nicht.
„Red endlich. Vielleicht kann ich helfen.“
Brüskiere ich sie und sie findet zurück von wo immer sie gedanklich war. Nervös beginnt sie nach einem Dokument zu suchen, blättert erfolglos vorwärts und rückwärts. Ich nehme ihre Hände in die meinigen. Kalt sind sie, ihre Hände.
„Was suchst du?“
„Die Zeugenaussage. Ich möchte, dass du sie liest.“
Mir gegenüber sitzt eine am Boden zerstörte Frau. Wieder suche ich ihre Augen.
„Bist du schuldig?“
„Nein. Ich bin es nicht.“
*Die Todesstrafe ist nach kenianischem Recht noch immer vorgesehen.
Seit 1987 wurden in Kenia keine Hinrichtungen mehr durchgeführt.
Im Jahr 2009 wandelte Kenia alle Todesurteile in lebenslange Haftstrafen um.
Trotz des Fehlens von Hinrichtungen werden in Kenia immer noch Todesurteile verhängt.