Das Gewicht einer Träne

Etwas ist gestern passiert.
Ich sah Tränen auf der Haut einer Frau.
Sie besitzt ein Diplom in Chemie. Vom Aussehen her ist sie eine gestandene Dame, 57 jährig, jedoch mit einem Defizit.
Wir standen an einem Fenster und diskutierten von ihr geschriebene Texte, während die Studenten meiner Klasse für kreatives Schreiben einen Film verfolgten. Die Frau, die neben mir stand, wir kümmerten uns nicht darum was im Raum vor sich ging, trägt eine ungeheure Last - die Last, verurteilt zu werden.
Da waren wir, wie gesagt, isoliert, beschäftigt mit Worten, Gedichte, Kurzgeschichten, allesamt belastet mit dem emotionalen Kontext des Wortes - verurteilt.
Chemie ist die Wissenschaft, die sich mit den Substanzen beschäftigt, aus denen Materie besteht, mit der Untersuchung ihrer Eigenschaften und Reaktionen und der Anwedung solcher Reaktionen zur Bildung neuer Substanzen. Sicherlich wäre es eine Routineaufgabe für sie, einen Tropfen ihrer Tränen zu analysieren. Aber da ist auch noch diese andere Chemie, beladen mit diesem komplex emotionalen oder psychologische Aspekt, den sie gestern in die eine Träne gepackt hatte.
Meine Gedanken gingen weit. Diese Welt lebt nach den Regeln der Dualität. Alles funktioniert so. Aktion verursacht Reaktion.
Ein Richter hat sie verurteilt - ihr Defizit - ohne das Gewicht ihrer Tränen zu berücksichtigen.
Ich konnte es sehr stark spüren. Da war dieser fehlende Teil vor dem Wort verurteilt - zum Tode. Sie möchte den Satz angesichts der verheerenden Bedeutung nicht vervollständigen. Aber so funktioniert das System. Ich frage mich, wann wir den Weg der Menschlichkeit verloren haben. Tatsache jedoch ist, dass Reaktion die Folge einer Aktion ist. Es ist die vereinfachte Regel des Lebens allgemein. Ich spreche nicht vom drittem Gesetz Newtons, ich möchte hier einfach zu verstehen geben, wie Umstände zu Reflexhandlungen führen, allenfalls zu einem Verbrechen.
Gestern, wie wir aus dem Fenster schauten, begann ich zu verstehen, wie leicht diese Träne in Wirklichkeit war. Es gab dann dieser Moment wo sie die Feuchtigkeit von ihrer Wange wischte. Ich legte ihre Träne auf meine Waage, eine einfache Balkenwaage. Auf der Suche nach dem Gleichgewicht folgt diese Waage der Regel der Dualität.
Schwer oder leicht.
Leicht oder schwer.
Es war so - die leichtere Seite überwog die schwerere. Die eine Seite mit der Träne ging runter und die andere, die schwere, mit Regeln und Vorschriften beladen, ging hoch.
Es war gut für mich, diese Tränen zu sehen und dann zu wiegen.
Es ist ein Sinnbild - einfaches Ja zur Zukunft und ein vernichtendes Nein zur Vergangenheit.
Die Gefangene reichte mir ein Geschenk. Sie bestätigte mein Tun, ins Gefängnis zu gehen und über kreatives Schreiben zu referieren. Ich lernte gestern etwas über die Ursache der Menschheit, unsere Anwesenheit zu verstehen - vergeben und vergessen.